Nimeh: „Zu glauben, man sei die einzige Ausnahme weltweit, ist naiv“

George Nimeh, neuer Leiter von kurier.at, erklärt was er vorhat, warum er Österreichs digitale Auftritte für ausbaufähig hält und warum er länger als drei Jahre beim Kurier bleiben will

George Nimeh, gebürtiger Amerikaner, übernimmt mit Anfang nächsten Jahres die Leitung des Kurier-Online-Portals von Ronald Schwärzler. Mit derStandard.at sprach er über die Zusammenführung der Geschäftszweige, seine medientheoretischen Wurzeln und seine Einstellung zu Paywalls.

derStandard.at: Sie sind ein Job-Hopper, richtig?

George Nimeh: Ich hatte fünf Jobs in fünfzehn Jahren. Die letzten vier Jahre habe ich die Agentur Iris in London aufgebaut. Im Internet-Business können drei Jahre eine Ewigkeit sein. Ich habe es immer genossen, Geschäftsveränderungen in kurzen Zeitperioden abzuwickeln und dann das nächste große Abenteuer zu suchen.

derStandard.at: Für wie lange haben Sie ihren Aufenthalt beim Kurier geplant?

Nimeh: Jetzt, wo ich älter, weiser und Familienvater geworden bin, habe ich nach einer interessanten Kombination zwischen beruflichen Möglichkeiten, dem richtigen Team und der passenden Stadt gesucht und hier sind alle Stränge zusammengelaufen. Ich werde also nicht so schnell wieder weg sein und plane länger als drei Jahre zu bleiben.

derStandard.at: Wie eng werden Sie mit Helmut Brandstätter zusammenarbeiten?

Nimeh: Meine Mission wird sein, die Geschäftszweige zusammenzuführen. Wir werden uns alle Wege ansehen, redaktionell, aus Werbesicht, aus der Marketing- und Usability-Perspektive, um die Marke kurier.at crossmedial zu stärken. Ich werde mit den Geschäftsführern Helmut Brandstätter, Thomas Kralinger, dem Online Chefredakteur Christian Skalnik, sowie dem kombinierten Marketing- und Sales-Team zusammenarbeiten.

derStandard.at: Sie laden derzeit Leute aus der Branche auf unverbindliche Treffen ein. Welchen Eindruck konnten Sie bis jetzt gewinnen?

Nimeh: Ich habe es immer genossen, Menschen formell oder informell zusammenzubringen. Es ist eine Industrie, aber es ist auch eine Familie, in welcher wir einen Großteil unseres Arbeitslebens verbringen. Ich bin der Meinung, als Gruppe macht es mehr Spaß. Der Informationsaustausch ist nützlich und man kann voneinander lernen. Ich habe schon in New York und London Businesstreffen organisiert und ich hoffe, dass der Kurier mich in diesem Vorhaben unterstützen wird.

derStandard.at: Welche Themen wollen Sie dort besprechen?

Nimeh: Egal ob in der Werbe- oder Medienbranche, ein paar Themen brennen den Menschen immer unter den Nägeln: die wirtschaftliche Verfassung der Industrie und wie es jedem Einzelnen dabei geht. Manchmal entsteht beinahe eine Therapiesituation, weil die Menschen hören, dass sie nicht alleine sind. Wenn sie ihre Erfahrungen teilen, fühlen sie sich danach sicherer. Natürlich darf auch die Frage: „Was gibt es Neues?“ nicht fehlen. Das ist eine großartige Möglichkeit zu sehen, was die Menschen beeindruckt, was sie interessiert, was ihren Blick fängt. Man kann dabei sehr viel über die Passion der Leute lernen.

derStandard.at: Auf meinem Weg in den obersten Stock, in welchem die Geschäftsführung sitzt, habe ich mir die Frage gestellt, welchen Führungsstil Sie bevorzugen?

Nimeh: Sie können es nicht wissen, aber es gibt noch einen zwölften Stock mit drei wundervollen Konferenzräumen. Dort treffen wir uns jeden Tag über allem, auch über der Geschäftsführung. Das finde ich eine nette Analogie. Zu meinem Führungsstil: Ich habe mein ganzes Leben in Großraumbüros gearbeitet. Ich teile gerne Informationen, denn es hilft, das Geschäft in Gang zu halten und Leute für Visionen zu begeistern. Außerdem ist es mir sehr wichtig, Entscheidungen zu treffen, denn Stillstand ist gefährlich. Umgebungen, in denen nichts weitergebracht wird, sind nichts für mich. Sollten hier solche Orte existieren, wird sich das sehr rasch ändern.

derStandard.at: Gibt es Pläne für eine neue Website?

Nimeh: Der einzige Weg mit einer Website Erfolg zu haben, ist sowohl auf Contentseite als auch aus der Usability-Perspektive attraktiv zu wirken. Es muss so fesselnd sein zu lesen wie zu schauen, so interessant sein zu interagieren wie zu teilen. Es geht darum, innovativ und kreativ auf multiplen Plattformen zu agieren und zu beobachten, wie die Leute Content und die Marke teilen und welchen Einfluss das von der sozialen Seite nimmt. Wir werden das Konzept des „perpetual beta“ verfolgen, also eine konstante Erneuerung. Der Relaunch wird in vielen kleinen Schritten über die nächsten Monate hinweg passieren. Es wird auffälligere Teile, neue Sektionen und dergleichen geben. Die Website wurde vor langer Zeit relauncht, ich springe quasi auf einen fahrenden Zug.

derStandard.at: Trackt kurier.at derzeit die „customer journey“?

Nimeh: Derzeit sammeln wir genug Daten, um zu wissen, was die Leute interessiert, wenn Sie auf Kurier.at surfen. Es gibt aber sicher noch genug Raum für Verbesserungen. Die Verwendung von Daten muss gut für die User und das Geschäft sein und sehr transparent gestaltet werden. Falls wir also Änderungen vornehmen, werden diese gut sichtbar sein. Das ist eine Frage der Kultur und der ethischen Ansprüche. Ich glaube, Menschen wenden sich heutzutge an Marken, weil sie ihnen vertrauen und sie ihnen etwas zu bieten haben. Wir müssen also sehr vorsichtig sein, dass die Menschen auch wollen, was wir für sie tun und gleichzeitig verstehen, dass auch wir ein Geschäft zu betreiben haben.

derStandard.at: Wird die Datenauswertung Einfluss auf Ihren Umgang mit „Casual Usern“ und „Heavy Usern“ haben?

Nimeh: Es ist aufgrund meiner kurzen Zeit hier noch sehr schwierig diese Frage für kurier.at zu beantworten. Wenn man aber die Medienlandschaft beobachtet, insbesondere meine alte berufliche Heimat, die New York Times, haben diese mit ihren Experimenten 1996/97 angefangen und sind gerade dabei den Umschwung zu schaffen. Sie arbeiten mit einer porösen Paywall, die Zugänge auf verschiedene Arten erlaubt. Zusätzlich wird sehr clever mit Targeting und Daten gearbeitet, Werbung und Kooperationen werden schlau eingesetzt, sodass sie gut zur Marke passen. Die Pläne des Kurier sind, die Best-Practice-Beispiele auf globaler und lokaler Ebene zu adaptieren. Man kann diese Konzepte allerdings nicht wie einen Stempel aufdrücken. Ich bin nicht gekommen, um die Ideen Anderer hier in Österreich umzusetzen. Das ist ein maßgeschneiderter Prozess.

derStandard.at: Welche Rolle wird das Thema „Mobile“ zukünftig spielen?

Nimeh: Ich glaube, Tablets bieten für Verlagshäuser fantastische Möglichkeiten. Es gibt ein Geschäftsmodell und einen Markt für Qualitätsinhalte. Man muss aber bedenken, dass so interessant das Geschäftsmodell auch ist, es für jede Veröffentlichung ganz anders sein wird müssen.

derStandard.at: Was halten Sie von plattformübergreifenden Technologien wie HTML5?

Nimeh: Anstatt über spezifische Technologien zu sprechen, ist es wichtiger Strategien zu finden, die Inhalte über verschiedene Plattformen auszuspielen, ohne sie immer wieder adaptieren zu müssen. Das ist oft eine Verschwendung von Zeit, Geld und Leuten.

derStandard.at: Wie steht es um die Fusion zwischen Online und Print?

Nimeh: Der Online-Chefredakteur ist jeden Tag bei der Morgenkonferenz und die Newsteams aus Print und Online sind auch räumlich nah beieinander. Es gibt starke Ambitionen die Dinge noch näher zusammenzubringen. Natürlich hat an einem gewissen Punkt jeder Angst vor Neuem, aber es muss einfach passieren. In Österreich sagen die Leute: Die Zeitungsauflagen sind ziemlich konstant – wir sind die Ausnahme aus der Regel. Ich aber sage: Wenn ich das Licht am Ende des Tunnels sehe, so wie es in Großbritannien, in Nordeuropa und Teilen Westeuropas geschehen ist, dann muss ich erkennen, dass das Licht ein Zug ist. Man findet entweder einen Weg mit der Situation umzugehen oder man wird getroffen. Zu glauben, man sei die einzige Ausnahme weltweit, ist naiv. Es handelt sich hier um einen Adaptionszyklus, der möglicherweise in Österreich länger braucht um zu greifen, aber es wird passieren, weil das die Auswirkung einer globalen Ökonomie ist.

derStandard.at: Wird Bewegtbild eine größere Rolle auf Kurier.at einnehmen?

Nimeh: Bewegtbild ist bereits auf vielen verschiedenen digitalen Distributionskanälen unglaublich populär und es wird auch bei Kurier eine immer wichtigere Rolle spielen.Zusätzlich zur Etablierung strategischer Partnerschaften mit Video-Content-Produzenten, entwickeln wir gerade selbst Video Content, der crossmedial auf unseren Plattformen, eingeschlossen unserer neuen Partnerschaft mit kooaba´s Paperboy, verwenden werden soll. Wir gründen keinen Fernsehsender, aber wir machen einen kleinen Anfang, der am Beginn einer Veränderung steht.

derStandard.at: Wie stehen Sie zu Paywalls?

Nimeh: Qualitätsinhalte können nicht gratis sein. Sie müssen auf die eine oder andere Art bezahlt werden. Egal ob das jetzt durch ein Abonnement, durch Targeting von Werbung, ein Sponsorship oder ein Newsletter-Abo erfolgt. Ich bin für Paywalls, solange sie am richtigen Platz aus dem richtigen Grund stehen. Es gibt auf jeden Fall nicht nur ein Modell, sondern die Kombination vieler verschiedener Monetarisierungsmöglichkeiten. Der große Spaßanteil an digitalen Medien ist, dass man nicht auf ein Produkt, einen Preis und einen Distributionsweg beschränkt ist. Man kann ein Modell über Facebook, eines fürs Tablet und eines für Abonnenten haben. Wenn wir diese Möglichkeit ergreifen, werden wir sehr viel erfolgreicher wirtschaften. Wir werden jedenfalls nicht schüchtern sein. Wir wollen dass die Leute eine starke Meinung zu unserer Marke haben.

derStandard.at: Was halten Sie von den digitalen Gehversuchen der österreichischen Medienbranche?

Nimeh: Wenn man über Marshall McLuhan nachdenkt, der das Medium selbst als die Erfahrung versteht und wenn man dann die Implementierung von Geräten und digitaler Erfahrungen sieht, dann erkennt man: diese Kombination funktioniert. Je näher man es schafft, an dieses Ideal heranzukommen, desto besser wird das Geschäft funktionieren. Wenn man sich die österreichische Medienlandschaft ansieht, gibt es viel zu verbessern. Ich glaube, niemand hier macht es derzeit richtig. Sicher gibt es Projekte die gut laufen, aber etwas Bahnbrechendes ist es nicht, nicht wahr? Darin sehe ich eine unglaubliche Möglichkeit.

derStandard.at: War es wichtig für Sie, für eine Qualitätszeitung zu arbeiten?

Nimeh: Wahrscheinlich hätte ich nicht für ein Boulevardblatt zu arbeiten begonnen. Wenn man sich meine früheren Arbeitgeber genauer ansieht: New York Times, Red Bull, Iris, Organic, dann habe ich gegenüber diesen Marken viel Repekt und sehe es als Privileg, mit ihnen gearbeitet zu haben. Ich glaube, dass Qualität, ob das nun eine Frage intellektueller Herausforderung oder einfach eine Frage ethischer Standards ist, sehr wichtig für mich ist. Ich möchte, dass meine Tochter stolz auf mich ist.

derStandard.at: Sie sind ein Bewunderer von Marshall McLuhan. Gibt es für Sie heutzutage einen vergleichbaren Medientheoretiker?

Nimeh: Clay Shirky ist jemand, dessen Gedanken mich immer interessieren. David Carr ist sehr cool, auch wenn er kein wirklicher Medientheoretiker ist. Die Idee vom Medienverständnis McLuhans hat mich immer begleitet. Er hat die Essenz der Medien verstanden. Einer meiner aktuellen Helden ist Don Draper. Wenn man also McLuhan mit Don Draper kombinieren würde und möglicherweise noch Steve Jobs dazu, das wäre mein Ideal. Auch Mark Zuckerberg ist sicherlich sehr interessant, aber er spricht zu wenig über Strategie, man ist immer sehr stark auf die eigene Interpretation angewiesen.

derStandard.at: Wird es für den Kurier von Vorteil sein, jemanden aus dem Ausland für den Job rekrutiert zu haben?

Nimeh: Ich bin kein totaler Outsider, denn ich habe hier ja schon mal gelebt. Ich habe auf jeden Fall keine Angst vor traditionellen professionellen Normen, vor der Art wie man sich verhalten soll. Ich glaube, dass es gut ist die Dinge ein bisschen durcheinander zu rütteln, um ein Umfeld der Veränderung und Innovation zu schaffen. (derStandard.at/9.11.2011)

Zur Person: George Nimeh, 44, wird mit 1. Jänner 2012 die Leitung des 50-köpfigen Teams von kurier.at übernehmen und für die strategische und konzeptionelle Weiterentwicklung des Portals verantwortlich sein. Der studierte Journalist und Kunsthistoriker startet seine Karriere als Marketingconsultant bei der New York Times, leitete von 2002 bis 2005 als Director und Chefredakteur Online-Projekte für Red Bull und war zuletzt als Europa-Direktor bei der Online-Marketingagentur iris Worldwide tätig.

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