„Der Großteil des Journalismus wird datengetrieben sein“
Shazna Nessa von der Nachrichtenagentur AP über „Visualization Porn“ und den Journalismus der Zukunft
Shazna Nessa, Director of Interactive bei der Nachrichtenagentur The Associated Press, wird beim Hamburger Scoopcamp in ihrer Keynote „Disruptions in visual storytelling“ über die Herausforderungen im New Yorker Hauptquartier und neue Techniken des Geschichtenerzählens berichten. Tatjana Rauth sprach mit ihr über die Magie visualisierter Berichterstattung.
derStandard.at: Worin liegt der Zauber des visuellen Geschichtenerzählens?
Shazna Nessa: Heutzutage sind datenbasierte Informationen überall greifbar, aber darin einen verständlichen Zugang zu komplexen aktuellen Themen zu finden, ist manchmal richtig schwer. Meine Arbeit konzentriert sich darauf, dem User den oft tief vergrabenen Kontext durch Visualisierungen zu erklären. Wir verwenden dafür Fotos, Videos und grafische Tools, beispielweise Karten und Diagramme. Durch die Einbindung von Bild und Audio in Metaebenen können wir die Muster in großen Datenmengen darstellen. Diese Technik wird im Journalismus immer populärer.
derStandard.at: Wo warten die größten Herausforderungen?
Nessa: Es liegt sicherlich noch jede Menge Arbeit vor uns, um mehr Einfachheit in die Darstellungen zu bringen und den User besser durch die Geschichte zu begleiten. Das User-Interface ist Teil davon. Interfaces ändern sich durch unterschiedliche Bildschirmformate, den Siegeszug der Touchscreens und die ständige Verfügbarkeit mobiler Endgeräte. Das verändert die Erfahrung und sie gewinnt an Leben. Deshalb ist es eine natürliche Entwicklung, dass journalistisches Geschichtenerzählen von traditionellem Text, Foto und Videoformaten in eine vielschichtigere Erfahrung übergeht.
derStandard.at: Legen die verschiedenartigen Systeme den Programmierern große Steine in den Weg?
Nessa: Tatsächlich ist das ein bisschen ein Alptraum für uns. Bei AP haben wir immer sehr viel mit Flash gearbeitet, aber das scheint mehr und mehr ein Problem zu werden. Deshalb wechseln wir gerade zu HTML5, das viele neue Möglichkeiten bietet. Allerdings ist uns noch nicht möglich, Dinge wie Mapping und 3D umzusetzen. Aber es sind die frühen Jahre. Als Mittelweg in Zeiten des Wandels wird es uns helfen, bestimmte Typen von Informationen für mehr Menschen leichter zugänglich zu machen.
derStandard.at: Welche Techniken hat AP für visuelles Storytelling entwickelt?
Nessa: Wir schenken dem Interface sehr viel mehr Beachtung. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht direkt mit Journalismus in Verbindung gebracht wird, ist es letztlich doch die Sprache, um die Menschen durch die Geschichte zu führen. Man kann die beste Geschichte der Welt haben, aber wenn der Leser nicht weiß, wo er die Informationen finden kann, wird es ein Reinfall. Wir sind außerdem große Fans von Einfachheit. Die besten Arbeiten schaffen es, komplizierte Inhalte einfach darzustellen anstatt einen Wow-Effekt zu provozieren.
derStandard.at: Das Gegenteil von „visualization porn“?
Nessa: Auch wenn es gut aussieht, muss es effektiv sein. Es muss eine dritte Schicht geben, die dem User hilft, zu verstehen. Er darf nicht zulange nachdenken müssen, weil soviele Herausforderungen auf seine Augäpfel warten. Ich habe nichts gegen „data-viz-porn“ solange er seinen Zweck korrekt erfüllt.
derStandard.at: Welche Rolle spielen Templates in der Generierung visualisierter Information?
Nessa: Templates bilden das Fundament. Dadurch, dass die Arbeitsprozesse technisch immer anspruchsvoller werden, lastet eine große Bürde auf unseren Angestellten. Die von uns entworfenen Templates helfen unseren interaktiven Produzenten und Journalisten sehr schnell Inhalte zusammenzustellen. Die Gefahr der Templates ist, dass man aufhört über den Aufbau der Geschichte nachzudenken und sich auf vorgefertigte Muster verlässt. Unsere Aufgabe ist es, weiter an der Evolution der Templates arbeiten, um eine noch differenzierte Art des Geschichtenerzählens zu ermöglichen. AP hat sich als Entwickler interaktiver „Breaking-News“-Formate positioniert. Dieses Geschäftsmodell ist nicht mit einer herkömmlichen News-Website oder Zeitung zu vergleichen. Wir müssen Produkte erschaffen, die zu allen möglichen Typen von Webseiten und Konsumentenbedürfnisse passen müssen. Man steht ständig unter Druck, schnell und korrekt zu sein. Gleichzeitig wird neben dem Journalismus das Programmieren eine tragende Fertigkeit, um die Geschichte zu erzählen. Das ist ein Wendepunkt für das Interactive Department. Programmieren und Code wurden bis jetzt noch nicht als journalistisches Werkzeug gesehen, das bedeutet einen großen Wandel.
derStandard.at: Wenn ein junger Mensch sich für den Beruf „Interactive News Designer“ interessiert, welche Fähigkeiten sollte er mitbringen?
Nessa: Man muss neugierig und leidenschaftlich sein, um immer auf dem letzten Stand zu bleiben, weil die Technologie sich so schnell entwickelt. Abgesehen von journalistischen Kerneigenschaften, technischen und praktischen Fertigkeiten sucht ein Department wie das „Interactive Department“ von AP nach hybriden Fähigkeiten. In allem fantastisch zu sein ist unrealistisch, aber es wäre gut, wenn man in mindestens ein bis zwei Feldern eine Spezialisierung vorweisen kann. Wir haben Leute, die sind tolle Programmierer und Journalisten oder hervorragende Kartografen und Journalisten. Wenn ich also über hybride Fähigkeiten spreche, dann sollte man es beipielweise verstehen, neben Journalismus auch in der Designwelt Informationen verständlich zu vermitteln. Auch HTML und Javascript fügen niemandem Schaden zu. Das Web und die Webstandards zu verstehen, ist plötzlich wichtig für Newsrooms, auch wenn in der Journalismusschule niemand daran denkt.
derStandard.at: AP entwickelt gerade ein interessantes Journalismus-Werkzeug namens „Overview“. Was wird man damit machen können?
Nessa: Wir suchen derzeit nach Entwicklern, die mit uns im AP-Hauptquartier in New York arbeiten werden. Die Idee stammt von Jonathan Stray, der in meinem Team arbeitet. Wir wollen ein Tool programmieren, das große Datenmengen analysiert und scannt, um daraus eine visuelle Karte von Worten und Themen zu kreieren. Da dieser Wikileaks-Style der plötzlich auftauchenden Dokumente wohl nicht so bald wiederaufhören wird, stellt sich die Frage, wie wir schneller herausfinden können, wo sich die Geschichten verbergen. Derzeit müssen wir jede einzelne Seite lesen. Wir können sie auch scannen, indizieren und nach Keywords suchen. Um aber nach Keywords suchen zu können, muss man zuerst wissen, wonach man suchen soll. „Overview“ soll bei diesem Prozess helfen und die Technologie dahinter existiert bereits im akademischen Umfeld. Wir wollen Partnerschaften schließen, um diese Technik auch für Journalismus nutzen zu können. Es ist ein Open-Source-Projekt und wir möchten damit Newsrooms in der ganzen Welt unterstützen. Viele Journalisten, mit denen ich spreche, glauben, dass sie Data nicht betrifft. Wenn Sie etwa über einen religösen Führer schreiben, kann es auch interessant sein, dass er mal in einen Korruptionsfall verwickelt war. Viele glauben noch, dass Daten nur den Bereich des investigativen Journalismus betreffen.
derStandard.at: Verraten Sie uns Ihre Einschätzung zur Zukunft des Journalismus?
Nessa: Der Großteil des Journalismus wird datengetrieben sein. Das ist ein wichtiger Bestandteil von Journalismus, der morgen nicht verschwunden sein wird. Wir leben in einer Welt der Computer und der weit fortgeschrittenen Dokumentation eines jeden Schrittes. In dieser Informationsansammlung sind abertausende Geschichten verborgen. Wenn die journalistische Welt diese nicht versteht, in sie eintaucht und sie analysiert, wer sollte das dann tun? (Tatjana Rauth/derStandard.at/19.09.2011)
Links:
- Scoopcamp am 29. September in Hamburg
- The Associated Press